Ich stehe hier nicht, weil ich Tierarzt werden will, sondern weil Menschen meinen, Fleisch essen zu müssen. Und nicht nur das allein: Auch, weil sie feige sind. Das steril verschweisste Schnitzel im Supermarkt hat keine Augen mehr, die überquellen vor nackter Todesangst, es schreit nicht mehr. Das alles ersparen sie sich, all jene, die sich von geschändeten Leichen nähren: "Also, ich könnte das nicht!"
Dann, eines Tages, kommt ein Bauer und bringt Fleischproben zur Trichinenuntersuchung. Sein kleiner Bub begleitet ihn, zehn oder elf Jahre alt vielleicht. Ich sehe, wie das Kind seine Nase an der Scheibe plattdrückt, und denke: Wenn die Kinder es sähen, all dieses Grauen, all die ermordeten Tiere, gäbe es da nicht noch Hoffnung? Ich kann genau hören, wie der Bub nach seinem Vater ruft. "Papi, schau mal! Geil! Diese grosse Säge da. – "
Am Abend, im Fernsehen, berichtet "Aktenzeichen XY ungelöst" von dem Verbrechen an einem jungen Mädchen, das ermordet und zerstückelt wurde, und vom namenlosen Entsetzen und Abscheu der Bevölkerung auf diese Greueltat. "So etwas ähnliches habe ich diese Woche 3.700mal mitangesehen", werfe ich ein. Nun bin ich nicht mehr nur ein Terrorist, sondern obendrein krank im Kopf. Weil ich Entsetzen und Abscheu nicht nur wegen eines Menschenmordes empfinde, sondern auch wegen des tausendfach mit Füssen getretenen Mordes an Tieren: 3.700 mal nur in dieser einen Woche, nur in diesem einen Schlachthof. Mensch sein – heisst das nicht nein zu sagen und sich zu weigern, Auftraggeber eines Massenmordes zu sein – für ein Stück Fleisch? Sonderbare neue Welt.
Vielleicht hatten die winzigen, dem Mutterleib entrissenen Kälbchen, die starben, bevor sie geboren wurden, das beste Los von uns allen.
Irgendwann ist der letzte all dieser nicht endenwollenden Tage gekommen. Irgendwann halte ich die Praktikumsbestätigung in Händen, einen Papierwisch, teurer bezahlt, als ich je für irgend etwas bezahlt habe. Die Tür schliesst sich, eine zaghafte Novembersonne geleitet mich über den kahlen Hof zum Bus. Schreie und Maschinenlärm werden leiser. Als ich die Strasse überquere, biegt ein grosser Viehtransporter mit Anhänger in die Zufahrt zum Schlachthof ein. Schweine auf zwei Etagen, dichtgedrängt.
Ich gehe ohne einen Blick zurück, denn ich habe Zeugnis abgelegt, und jetzt will ich versuchen zu vergessen, um weiterleben zu können. Kämpfen mögen nun andere; mir haben sie in jenem Haus die Kraft dazu genommen, den Willen, die Lebensfreude, und sie gegen Schuld und lähmende Traurigkeit getauscht. Die Hölle ist unter uns, vieltausendfach, Tag für Tag.
Eines aber bleibt immer, jedem von uns: Nein zu sagen.
Nein, nein und abermals nein!
"Um eines kleinen Bissens Fleisches willen berauben wir eine Seele des Lichtes und der Spanne von Zeit, in die sie hineingeboren wurde, sich daran zu erfreuen."
Plutarch
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