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Eine Veterinär-Studentin im Schlachthof

Was für ein Glück, dass ich die alte Jacke mitgenommen habe. Obwohl erst Anfang Oktober, ist es schneidend kalt, aber ich friere nicht nur deswegen. Ich vergrabe die Hände in den Taschen, zwinge mich zu einem freundlichen Gesicht und dazu, dem Direktor des Schlachthofes zuzuhören, der mir eben erklärt, dass man längst keine Lebenduntersuchung mehr vornimmt, nur eine Lebendbeschau. 700 Schweine pro Tag, wie sollte das auch gehen.

"Es sind eh keine kranken Tiere dabei. Die würden wir sofort zurückschicken, und das kostet den Anlieferer eine empfindliche Strafe. Das macht der einmal und dann nicht wieder." Ich nicke pflichtschuldig - durch, nur durchhalten, du musst diese sechs Wochen hinter dich bringen - , was passiert mit kranken Schweinen?
"Da gibt es einen ganz speziellen Schlachthof." Ich erfahre einiges über die Transportverordnungen, und wieviel genauer man es heutzutage mit dem Tierschutz nimmt. Das Wort, an diesem Ort gesprochen, klingt makaber. Inzwischen hat sich der vielstimmig grunzende und quiekende Doppeldecktransporter unter uns bis an die Rampe heranrangiert. Einzelheiten sind in der morgendlichen Dunkelheit kaum auszumachen; die Szenerie hat etwas Unwirkliches und gemahnt an jene gespenstischen Wochenschauen aus dem Krieg, an graue Waggonreihen voller ängstlicher bleicher Gesichter an Laderampen, über die geduckte Menschenmengen von gewehrtragenden Männern getrieben werden. Plötzlich bin ich mittendrin. So etwas träumt man in bösen Träumen, aus denen man schweissgebadet aufschreckt: Inmitten wabernden Nebels, in Eiseskälte und schmutzigem Zwielicht dieses unnennbar böse Bauwerk, dieser flache, anonyme Klotz aus Beton und Stahl und weissen Kacheln, ganz hinten am frosterstarrten Waldesrand; hier geschieht das Unaussprechliche, wovon niemand wissen will.
Die Schreie sind das erste, was ich höre an jenem Morgen, als ich eintreffe, um ein Pflichtpraktikum anzutreten, dessen Verweigerung für mich fünf verlorene Studienjahre und das Scheitern aller Zukunftspläne bedeutet hätte. Aber alles in mir – jede Faser, jeder Gedanke – ist Verweigerung, ist Abscheu und Entsetzen und das Bewusstsein nicht steigerbarer Ohnmacht: Zusehen müssen, nichts tun können, und sie werden dich zwingen mitzumachen, dich ebenfalls mit Blut zu besudeln. Schon aus der Ferne, als ich aus dem Bus steige, treffen die Schreie der Schweine mich wie ein Messerstich. Sechs Wochen lang werden sie mir in den Ohren gellen, Stunde für Stunde, ohne Unterlass. Durchhalten. Für dich ist es irgendwann zu Ende. Für die Tiere nie.

So etwas träumt man in bösen Träumen, aus denen man schweissgebadet aufschreckt.

Ein kahler Hof, einige Kühltransporter, Schweinehälften am Haken in einer grell erleuchteten Türe. Alles peinlich sauber. Das ist die Vorderfront. Ich suche nach dem Eingang, er ist seitlich gelegen. Zwei Viehtransporter fahren an mir vorbei, gelbe Scheinwerfer im Morgendunst. Mir weist ein fahles Licht den Weg, erleuchtete Fenster. Ein paar Stufen, dann bin ich drinnen, und jetzt ist alles nur weissgekachelt. Keine Menschenseele zu sehen. Ein weisser Gang, – da, der Umkleideraum für Damen. Fast sieben Uhr, ich ziehe mich um: weiss, weiss, weiss. Der geliehene Helm schaukelt grotesk auf den glatten Haaren. Die Stiefel sind zu gross. Ich schlurfe wieder in den Gang, stosse beinahe mit dem zuständigen Veterinär zusammen. Artige Begrüssung. "Ich bin die neue Praktikantin." Bevor es losgeht, die Formalitäten. "Ziehen Sie sich mal was Warmes an, gehen Sie zum Direktor und geben Sie Ihr Gesundheitszeugnis ab. Dr. XX sagt Ihnen dann, wo Sie anfangen."

Schon aus der Ferne treffen die Schreie der Schweine mich wie ein Messerstich.

Der Direktor ist ein jovialer Herr, der mir erst einmal von den guten alten Zeiten erzählt, als der Schlachthof noch nicht privatisiert war. Dann hört er leider damit auf und beschliesst, mich persönlich herumzuführen. Und so komme ich also auf die Rampe. Rechter Hand kahle Betongevierte, von eisigen Stahlstangen umgeben. Einige sind bereits mit Schweinen gefüllt. "Wir beginnen hier um fünf Uhr morgens." Geschubse, hier und da Krabbeleien, ein paar neugierige Rüssel schieben sich durch die Gitter, pfiffige Augen, andere unstet und verwirrt. Eine grosse Sau geht beharrlich auf eine andere los; der Direktor angelt nach einem Stock und schlägt sie mehrfach auf den Kopf. "Die beissen sich sonst ganz böse." Unten hat der Transporter die Holzklappe heruntergelassen, die vordersten Schweine schrecken vor dem wackeligen und abschüssigen Übergang zurück, doch von hinten wird gedrängelt, da ein Treiber dazwischen geklettert ist und kräftige Hiebe mit einem Gummischlauch austeilt. Ich werde mich später nicht mehr wundern über die vielen roten Striemen auf den Schweinehälften.

"Der Elektrostab ist für Schweine inzwischen verboten", doziert der Direktor. Einige Tiere wagen strauchelnd und unsicher die ersten Schritte, dann wogt der Rest hinterher, eins rutscht mit dem Bein zwischen Klappe und Rampe, kommt wieder hoch, hinkt weiter. Sie finden sich zwischen Stahlverstrebungen wieder, die sie unentrinnbar in einen noch leeren Pferch führen. Wenn es um eine Ecke geht, verkeilen sich die vorderen Schweine, alle stecken fest, und der Treiber flucht wütend und drischt auf die hintersten ein, die panisch versuchen, auf ihre Leidesgenossen zu springen. Der Direktor schüttelt den Kopf. "Hirnlos. Einfach hirnlos. Wie oft habe ich schon gesagt, dass es doch nichts bringt, die hintersten zu prügeln!"
Während ich noch wie erstarrt dieses Schauspiel verfolge – das ist bestimmt alles nicht wahr – du träumst –, wendet er sich ab und begrüsst den Fahrer eines weiteren Transportes, der neben den anderen gefahren ist und sich jetzt zum Ausladen bereit macht. Warum es hier viel schneller, aber auch mit noch viel mehr Geschrei vonstatten geht, sehe ich erst, als hinter den emporstolpernden Schweinen ein zweiter Mann aus dem Laderaum auftaucht, denn was nicht schnell genug ist, wird von ihm mit Elektroschocks bedacht. Ich starre den Mann an, dann den Direktor, und dieser schüttelt ein weiteres Mal den Kopf: "Also, Sie wissen doch, das ist bei Schweinen jetzt verboten!" Der Mann blickt ungläubig, dann steckt er das Gerät in die Tasche.

Wer spricht von der Intelligenz und Neugier in den Augen eines Schweines?

Von hinten stupst mich etwas in die Kniekehle, ich fahre herum und blicke in zwei wache blaue Augen. Viele Tierfreunde kenne ich, die enthusiastisch schwärmen von den ach so seelenvollen Katzenaugen, dem treuen Hundeblick, – wer spricht von der Intelligenz und Neugier in den Augen eines Schweines? Ich werde diese Augen sehr bald noch anders kennenlernen: Stumm schreiend vor Angst, von Schmerzen stumpf, und dann blicklos, gebrochen, aus den Höhlen gerissen, über den blutverschmierten Boden kollernd. Messerscharf streift mich ein Gedanke, den ich in den folgenden Wochen monoton noch viele hundert Male im Geiste wiederholen werde: Fleischessen ist ein Verbrechen – ein Verbrechen...
Danach ein kurzer Rundgang durch den Schlachthof, im Pausenraum beginnend. Eine offene Fensterfront zur Schlachthalle, in unendlicher Folge schweben am Fliessband fahle, blutige Schweinehälften vorbei. Dessen ungeachtet sitzen zwei Angestellte beim Frühstück. Wurstbrot. Die weissen Kittel der beiden sind blutverschmiert, unter einem Gummistiefel hängt ein Fetzen Fleisch. Hier ist der unmenschliche Lärm noch gedämpft, der mir wenig später ohrenbetäubend entgegenschlägt, als ich in die Schlachthalle geführt werde. Ich fahre zurück, weil eine Schweinehälfte scharf um die Ecke saust und gegen die nächste klatscht. Sie hat mich gestreift, warm und teigig. Das ist nicht wahr – das ist absurd – unmöglich.

Unwillkürlich erwartet man Ungeheuer, aber es ist der nette Opa von nebenan, der flapsige junge Mann von der Strasse...

Alles zugleich stürzt auf mich ein. Schneidende Schreie. Das Kreischen von Maschinen. Blechgeklapper. Der durchdringende Gestank nach verbrannten Haaren und versengter Haut. Der Dunst von Blut und heissem Wasser. Gelächter, unbekümmerte Rufe. Blitzende Messer, durch Sehnen gebohrte Fleischerhaken, daran hängende halbe Tiere ohne Augen und mit zuckenden Muskeln. Fleischbrocken und Organe, die platschend in eine blutgefüllte Rinne fallen, so dass der eklige Sud an mir hochspritzt. Fettige Fleischfasern am Boden, auf denen man ausrutscht. Menschen in Weiss, von deren Kitteln das Blut rinnt, unter den Helmen oder Käppis Gesichter, wie man sie überall trifft: in der U-Bahn, im Kino, im Supermarkt. Unwillkürlich erwartet man Ungeheuer, aber es ist der nette Opa von nebenan, der flapsige junge Mann von der Strasse, der gepflegte Herr aus der Bank. Ich werde freundlich begrüsst. Der Direktor zeigt mir rasch noch die heute leere Rinderschlachthalle – "Rinder sind dienstags dran!" –, übergibt mich dann einer Dame und enteilt; er hat zu tun. "Die Tötungshalle können Sie sich ja selbst mal in aller Ruhe ansehen." Drei Wochen werden vergehen, ehe ich mich dazu überwinde.

Der erste Tag ist für mich noch Galgenfrist. Ich sitze in einem kleinen Zimmerchen neben dem Pausenraum und schnippele Stunde um Stunde kleine Fleischstückchen aus einem Eimer von Proben, den regelmässig eine blutige Hand aus der Schlachthalle nachfüllt. Jedes Stückchen – ein Tier. Das Ganze wird dann portionsweise zerhäckselt, mit Salzsäure angesetzt und gekocht, für die Trichinenuntersuchung. Die Dame zeigt mir alles. Man findet nie Trichinen, aber es ist Vorschrift.

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