Interview zum Fall U.K. von Hefenhofen
mit Bianca Körner von der Stiftung für das Tier im Recht (TIR)
Renato Pichler: Der Kanton Thurgau ist im August 2017 schweizweit in die Schlagzeilen geraten und als "Tierquäler-Kanton" bezeichnet worden – was hat das bei dir als Thurgauerin ausgelöst?
Bianca Körner: Aufgrund meiner Arbeit bei der Stiftung für das Tier im Recht (TIR) bin ich zwar immer wieder mit – teilweise auch massiven – Missständen im Bereich Tierschutz konfrontiert. Dennoch ist es natürlich erschreckend, wenn sich solch gravierende Vorfälle nur ein paar Ortschaften weiter zutragen. Als Thurgauerin und Tierschützerin rief dies in mir vor allem den Wunsch nach Aufklärung sowie nach Veränderung der bisherigen Strukturen hervor, da im Kanton offensichtlich einige Vollzugsprobleme bestehen. Es muss aber auch erwähnt werden, dass wir seit Jahren Vollzugsmängel in diversen Kantonen feststellen und der Kanton Thurgau damit nicht allein ist.
Die Stiftung für das Tier im Recht (TIR) hatte eine Vertretung in der daraufhin eingesetzten Untersuchungskommission. Wie kam es dazu?
Die TIR hat den Fall U.K. nach Bekanntwerden in jenem Sommer intensiv verfolgt und in einem offenen Brief an die Thurgauer Regierung die sofortige Beschlagnahmung des gesamten Tierbestands gefordert. Gemeinsam mit anderen Tierschutzorganisationen haben wir überdies Adressen von Privatpersonen gesammelt, um den Behörden die vorübergehende Platzierung der immensen Anzahl Tiere zu erleichtern. Da der Fall mit verschiedenen rechtlichen Fragen und Unklarheiten einherging, war die TIR auch ein gefragter Ansprechpartner für die Medien. Dabei standen Fragen zu den juristischen Möglichkeiten der Behörden beispielsweise in Bezug auf die Beschlagnahmung der betroffenen Tiere im Fokus.
Seit Jahren beschäftigt ihr euch intensiv mit Tierschutzfällen. Was ist an diesem Fall anders, als bei den anderen?
Der Fall U.K. weist eine Dimension auf, die wir so noch nie gesehen haben. Die Vorgeschichte ist lang und intensiv. Insbesondere ist sie aber – und daran scheitert der Tierschutzvollzug in anderen Fällen – ausserordentlich gut dokumentiert: Verschiedene Organisationen, darunter die Stiftung für Tiere in Not Animal Help (Stinah) und der Verein gegen Tierfabriken (VgT), haben schon viele Jahre zuvor mit rechtlichen Mitteln versucht, Änderungen zu erwirken, und haben auch öffentlich auf die Missstände aufmerksam gemacht. Aus diesem Grund hätte hier eigentlich eine gute Grundlage für die Behörden zum Durchgreifen bestanden. Allerdings hat der Tierhalter U.K. sämtliche Schlupflöcher genutzt, sich immer wieder erfolgreich zur Wehr gesetzt und sich seine Regeln gewissermassen selbst gesetzt. Die Chronologie dieses Falls, die gemeinsam mit dem Untersuchungsbericht veröffentlicht wurde, liest sich wie ein Krimi.
Der Fall begann bereits Anfangs der 90er Jahre. Kommt es oft vor, dass sich solche Fälle über viele Jahre hinziehen?
Die Beschlagnahmung eines Tieres oder eines ganzen Tierbestandes ist an relativ strikte rechtliche Voraussetzungen geknüpft. Die Behörden dürfen erst zu diesem Mittel greifen, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind. Man versucht also zuerst, einen Tierhalter durch Ermahnungen und Auflagen zur Besserung zu bewegen. Bei uneinsichtigen Tierhaltenden bedeutet dies, dass die Tiere ihrem Besitzer über eine relativ lange Zeit schutzlos ausgeliefert sind. Zu diesem rechtlichen Umstand hinzu kommt, dass die Veterinärbehörden nicht überall mit gleicher Konsequenz vorgehen und teilweise selbst nach der Feststellung von Missständen während Monaten keine Nachkontrolle erfolgt. Dadurch wird das sonst schon schwierige Verfahren verzögert. Nicht zu vergessen ist, dass die Behörden oft auf Meldungen aus der Bevölkerung angewiesen sind, insbesondere bei nicht systematisch kontrollierten Tierhaltungen, zum Beispiel im Heimtierbereich. Oft dauert es lange, bis ein entdeckter Missstand überhaupt gemeldet und ein Verfahren eingeleitet wird. All dies geht auf Kosten der betroffenen Tiere. Insofern sind wir überzeugt, dass jahrzehntelang andauernde Tierhaltungsmissstände in der Schweiz immer wieder vorkommen.
Hätte sich ein solcher Fall über diese vielen Jahre auch mit einem Tierschutzanwalt entwickeln können?
Der "Tieranwalt" nach Zürcher Modell (1992-2010) oder auch der "Tierschutzanwalt", wie ihn die Volksinitiative des Schweizer Tierschutzes STS 2010 vorsah, war ein von den Behörden unabhängiger Rechtsanwalt, der in Strafverfahren die Interessen der betroffenen Tiere vertrat. Er war sozusagen das Gegenstück zum Beschuldigten, der sich jederzeit auf seine Grund- und Verfahrensrechte berufen und Rechtsmittel einlegen kann. Tiere sind in Strafverfahren Opfer mit ungenügender Vertretung. Zwar hat die Staatsanwaltschaft die Pflicht, die Tierschutzvorschriften in solchen Verfahren durchzusetzen. Wir stellen bei vielen Staatsanwaltschaften aber unhaltbare Defizite bezüglich ihrer tierschutzrechtlichen Kenntnisse und auch ihres Interesses, die entsprechenden Bestimmungen konsequent zur Anwendung zu bringen, fest. Ein Tieranwalt hätte im Fall U.K. viel bewirken können. Zur Durchsetzung einer Beschlagnahmung des Tierbestandes wäre er zwar nicht legitimiert gewesen, weil sich die Arbeit eines Tieranwalts auf strafrechtliche Aspekte beschränken würde. Dennoch hätte er das Verfahren erheblich beschleunigen und vor allem den Ermittlungsbehörden, die im Fall U.K. gemäss Untersuchungsbericht viele Fehler gemacht haben, auf die Finger schauen können. Bereits 2001 hatte Kantonsrat Daniel Jung die Einführung eines Tieranwalts im Kanton Thurgau gefordert – leider wurde sein Vorstoss im Thurgauer Parlament jedoch nicht unterstützt.
Gemäss dem Untersuchungsbericht haben mehrere Behörden (Umwelt, Tierschutz und Bauamt) versagt. U.K. hat über Jahre hinweg deren Anweisungen ignorieren und die Gesetze umgehen können. Ist der Thurgau in dieser Beziehung ein Einzelfall, oder hast du solchen Nicht-Vollzug der Gesetze gegen Tierhalter auch in anderen Kantonen schon erlebt?
Der Fall U.K. hat eindrücklich und in aller Deutlichkeit ein Problem aufgezeigt, das wir auch aus anderen Kantonen kennen: die mangelhafte oder kaum vorhandene Zusammenarbeit der verschiedenen Behörden, die mit Tierschutzaufgaben betraut sind. Der Untersuchungsbericht belegt, dass die Behörden im Kanton Thurgau teilweise sogar gegeneinander gearbeitet und die Durchsetzung der Tierschutzvorschriften damit erschwert haben. Die eine Behörde hat etwas angedroht, während die andere Zugeständnisse gemacht hat. Tierschutz ist eine wichtige öffentliche Aufgabe, die von Behörden und Politik immer wieder unterschätzt wird. Es ist unabdingbar, dass die verschiedenen Behörden, etwa Veterinäramt, Polizei und Staatsanwaltschaft, miteinander kommunizieren und konsequent zuerst einmal an der Feststellung des Sachverhalts arbeiten. Der Untersuchungsbericht zeigt, dass die Ermittlungsbehörden (Polizei und Staatsanwaltschaft) die Verantwortung immer wieder an das Veterinäramt abgegeben haben. Dieses kann aus verschiedenen Gründen aber nur einen Teil der Arbeit übernehmen. Nehmen die übrigen Behörden ihre Verantwortung im Tierschutzvollzug nicht ernst, funktioniert dieser nicht. Es wäre schön, wenn wir sagen könnten, dass es sich hier um einen Einzelfall handelt. Tatsächlich aber glauben wir, dass in zahlreichen anderen Kantonen ähnliche Probleme bestehen und man sich dessen dort nicht einmal bewusst ist.
Jahrzehntelang mussten die Tiere auf dem Hof von U.K. leiden, weil die Behörden nicht einschritten. Braucht es bessere Gesetze, damit die Behörden früher hätten einschreiten können?
Die Gesetzesgrundlage ist nicht perfekt, daher arbeiten wir ständig daran, Lücken aufzuzeigen und Verbesserungen anzustreben. Nichtsdestotrotz ist die Grundlage solide, sodass gewillte Behörden schon heute die Möglichkeit haben, den Vollzug weitgehend sicherzustellen. Dafür müssen aber verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein: Vor allem braucht es das Bewusstsein aller mit Tierschutzaufgaben betrauten Behörden, der Politik und der Regierung, dass der Schutz von Tieren ein wichtiges Anliegen ist, das nicht bagatellisiert werden darf. Daraus folgt dann auch, dass die Tätigkeit dieser Behörden in gewisser Weise koordiniert und das Personal entsprechend geschult werden muss. Erst dann kann den Vorschriften des Tierschutzgesetzes angemessen Nachachtung verschafft werden. Es gibt – wenn auch leider wenige –Kantone, die den Tierschutzvollzug auf diese Weise in den vergangenen Jahren spürbar verbessert haben.
Die Thurgauer Regierung lehnt personelle Konsequenzen ab und behauptet, dass nur strukturelle Probleme zu diesem Fall führten. Teilst du diese Meinung, dass der Fall auch bei anderer personeller Besetzung genau gleich abgelaufen wäre und nur die Strukturen daran schuld seien?
Jede Behörde einschliesslich der Regierung wird zum einen durch ihre organisatorische Ausgestaltung, zum andern durch ihre personelle Besetzung geprägt. Insofern spielen sowohl Struktur als auch Charakter und Einstellung der Amtsperson für die Ergebnisse eine Rolle. Der Untersuchungsbericht zeigt sowohl strukturelle als auch personelle Probleme auf. Allerdings ist es unseres Erachtens nicht so, dass sich diese Kritik nur oder überwiegend auf das Veterinäramt bezieht: Wie der Untersuchungsbericht zeigt, haben fast alle Behörden – so etwa das Raumplanungsamt, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Regierung – immer das Veterinäramt in der Verantwortung gesehen, ohne sich bewusst zu sein, dass auch sie selbst wichtige Aufgaben in diesem Fall gehabt und auch über Instrumente zur Durchsetzung der erforderlichen Massnahmen verfügt hätten. Nur wenige Personen haben aktiv und effektiv an einer Lösung gearbeitet – und dabei wurden erst noch verschiedene Wege als richtig erachtet. Der Kantonstierarzt war, das geht aus dem Bericht deutlich hervor, durchaus engagiert, hat aber nicht immer die richtigen Mittel gewählt und zu lange gezögert. Darüber, ob ein anderer Kantonstierarzt es unter den gegebenen Umständen besser gemacht hätte, kann letztlich nur spekuliert werden.
Was muss sich deiner Meinung nach ändern, damit ein solcher Fall nicht mehr vorkommen kann?
Tierschutz wird – spätestens seit dem Fall U.K. – als sensibler Bereich betrachtet, weil er in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert geniesst und entsprechende öffentlichkeitswirksame Missstände einem ganzen Kanton deshalb grossen Imageschaden zufügen können. Das ist aber nicht der Sinn der Sache. Die Behörden müssen begreifen, dass die Tierschutzvorschriften nicht nur ein "Ding des Anstandes und der öffentlichen Ordnung" sind. Vielmehr geht es darum, empfindsamen Lebewesen, die in unserer Gesellschaft ohne vernünftige Begründung in rechtlicher Hinsicht immer noch schwer benachteiligt sind, zu einem wenigstens minimalen Lebensstandard zu verhelfen. Die Tierschutznormen sind nicht verhandelbar, sie stellen einen absoluten Mindestschutz dar, weshalb sie unmissverständlich und unverzüglich durchzusetzen sind, wenn ein Tierhalter sie missachtet. Diese Auffassung des Tierschutzes ist heute noch nicht bei allen Behörden durchgedrungen. Zu oft werden Tierschutzmassnahmen noch immer lediglich als Druckmittel für zweifelhafte Verhandlungen betrachtet – das ist weder angemessen noch zielführend.
Bist du zuversichtlich, dass dem Untersuchungsbericht nun auch Taten folgen, die künftig einen solchen Fall verunmöglichen werden?
Oft gehen Tierschutzskandale schnell vergessen und man kehrt zur alten Routine zurück. Wichtig ist es daher, den Fall nun nicht als erledigt zu betrachten, sondern beharrlich die Umsetzung der Empfehlungen der Untersuchungskommission zu verlangen, damit ein Systemwechsel vollzogen und ein neues Kapitel aufgeschlagen werden kann. Dabei kommt der Thurgauer Politik eine grosse Verantwortung zu. Die Politik reagiert aber nur, wenn die Öffentlichkeit genau hinschaut. Es ist daher wichtig, dass die Bevölkerung immer wieder darauf aufmerksam macht, dass sie die Geschehnisse nicht vergessen hat und eine Änderung erwartet. Das kann zum Beispiel durch Leserbriefe, Schreiben an die Regierung und Parteivorstände, kantonale Initiativen und die Wahl von Parlamentariern, die dem Tierschutz einen angemessenen Stellenwert einräumen, erfolgen. Wir erhoffen uns im Weiteren, dass auch andere Kantone aus dem Fall U.K. lernen und ihre Vollzugsstrukturen kritisch prüfen. Und nicht zuletzt hegen wir die Hoffnung, dass auch die zuständigen Bundesämter ihre gesetzliche Pflicht zur Oberaufsicht des Tierschutzvollzugs künftig deutlich besser wahrnehmen als bisher.
Vielen Dank, Bianca, für diese Hintergundinformationen!
Und grosser Dank auch an das ganze Team von TIR für ihre unermüdliche Arbeit für die Tiere.
- Bilder von den Zuständen auf dem Hof von U. K. gibt es auf: Hof Ulrich Kesselring 2017
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