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Geschichte des Vegetarismus

Die Geschichte des Vegetarismus ist gleichzeitig auch eine Geschichte von unermüdlichen Kämpfern, Visionären und Idealisten.

Ursprung des Vegetarismus

Dass die Bewohner der Erde seit ihrem Beginn vegetarisch lebten, liest sich so im Schöpfungsbericht der Bibel (1. Mose, 1,29). Auch viele Mythen und Geschichten anderer Völker bezeugen, dass am Anfang unserer Zeit die Menschen kein Fleisch verzehrten. Selbst wenn diese Erzählungen nicht bewiesen werden können, so ist es zumindest eine Tatsache, dass sich die Menschen schon immer zum grössten Teil fleischlos ernährt haben – regelmässigen Fleischkonsum konnten sich bis in unsere Zeit nur die Vermögenden leisten.

Religion als Ursprung

Nachweislich die frühesten Spuren einer vegetarischen Bewegung stammen jedoch aus Indien, die sich ab dem 8. Jahrhundert vor Christus aus einer Vorläuferform des Hinduismus herausbildete. Noch heute leben die meisten Menschen in Indien nach hinduistischen Grundsätzen – und damit viele auch vegetarisch.1

Ursprung in Europa

Der westliche Vegetarismus brauchte einiges länger, um sich durchzusetzen. Den Anfang machte etwa 530 v. Chr. der griechische Philosoph Pythagoras in einer von ihm gegründeten Schule in Italien. Durch seinen Glauben an die verbreitete Lehre der Seelenwanderung kam für ihn das Schlachten von allem Lebendigen einem Mord gleich. Aus diesem Grund wurde damals der Vegetarismus auch noch als «Enthaltung vom Beseelten» bezeichnet. Pythagoras erlaubte seinen Schülern ausserdem nicht, Eier zu verzehren sowie wollene Kleidung zu tragen.2 (Leitzmann, S. 39)

Platon sieht Probleme des Fleischkonsums voraus

In Platons bedeutendstem Werk «Der Staat» greift er ebenfalls den Gedanken der vegetarischen Ernährung auf. Es ist von einer ursprünglich gesunden Stadt die Rede, in der sich die Menschen vegetarisch ernähren. Erst in der grösseren, ungesunden Stadt begannen die Menschen, Fleisch zu essen. Die Folgen davon sind Missgunst, Krieg um Weideland und Krankheiten. Wie recht Platon schon 400 Jahre vor Christus doch mit seiner Einschätzung hatte!

Plutarch und die Tierliebe

Das Wirken des Pythagoras und seiner Schüler hatte massgeblichen Einfluss auf Entstehung und Entwicklung des Vegetarismus. Neu und für antikes Denken einzigartig setzte Plutarch (45–125) zu seiner Zeit die Tierliebe und den Gedanken an das Wohl der Tiere in den Mittelpunkt der Argumentation für den Vegetarismus:

«Für ein kleines Stückchen Fleisch nehmen wir den Tieren die Seele sowie Sonnenlicht und Lebenszeit, wozu sie doch entstanden und von Natur aus da sind.»
 

Zur Zeit Roms

Die Völlereien im Römischen Reich sind legendär. Aus dieser Epoche ist deshalb auch nicht viel über den Vegetarismus bekannt. Einzig von den Gladiatoren weiss man, dass sie sich ihre Stärke und Ausdauer für die Kämpfe in den Arenen durch eine rein vegetarische (= vegane) Ernährung, die hauptsächlich aus Bohnen bestand, geholt haben.

Finsteres Mittelalter

Mit dem Untergang der antiken Kultur geriet die Idee des Vegetarismus in Europa für viele Jahrhunderte in Vergessenheit. Einzig einige Häretiker 3 wie die Bogomilen und die Katharer lehnten den Fleischverzehr ab, die sogenannten «Geistgetauften» lebten vom Tag ihrer Weihe an asketisch, zölibatär und vegetarisch. Aufgrund ihrer Überzeugung wurden diese Gruppen aber von der päpstlichen Kirche gnadenlos verfolgt und bis zum Ende des 13. Jahrhunderts endgültig zerschlagen.

Aufleben in der Renaissance

Erst in der frühen Neuzeit wurde die Idee für einen ethisch begründeten Vegetarismus wieder aufgenommen. Unter anderem ist dies auch dem Universalgenie Leonardo da Vinci zu verdanken, der im 16. Jahrhundert die Tierliebe auf die Ernährung ausweitete.
Als stärkster Antrieb für den Vegetarismus galt Thomas Tryon (1634–1703). In seinen Werken betonte er den Fleischverzicht als spirituellen Weg zu Gott.

«Ohne Tiermord und Fleischverzehr hört aller Hader auf. Kein Schreckensschrei oder klägliches Ächzen wird mehr vernommen, weder von Menschen noch von Tieren.»

Weitere Fürsprecher des Vegetarismus in dieser Epoche waren der Philosoph Jean-Jacques Rousseau, der Schriftsteller Voltaire, der Theologe John Wesley oder der Physiker Sir Isaac Newton.

Reformen der Neuzeit

Der Beginn des 19. Jahrhunderts kann wohl als Blütezeit des Vegetarismus bezeichnet werden. Für diese Zeit gilt der englische Dichter Percy Bysshe Shelley als einer der wichtigsten Fürsprecher. Er fügte dem Vegetarismus noch eine politisch-ökonomische Dimension hinzu, indem er auf die Ressourcenverschwendung hinwies, die durch Tierfütterung und Fleischproduktion verursacht wird.

Erster Vegetarierverein

In England gründeten Bibelchristen im Jahr 1847 den ersten Vegetarierverein überhaupt – die britische Vegetarian Society. Die aus der Vegetarian Society hervorgegangene Vegetarian Society of the United Kingdom (VSUK) ist weltweit die älteste heute noch existierende vegetarische Organisation. Mit der Vereinsgründung wurde auch der Begriff «vegetarian» die offizielle Bezeichnung für die fleischlose Ernährung. Bis dahin wurde oft ganz einfach von der pflanzlichen Ernährung gesprochen oder seltener von der pythagoreen Ernährung. Damals verstand man übrigens unter einer vegetarischen Ernährung das, was wir heute als vegan bezeichnen. Demnach war die Vegetarian Society ursprünglich sogar eine vegane Organisation.4 Anscheinend kam es aber einige Generationen später zu einer Veränderung der Ernährungsweise, was die Unterscheidung in «vegan» und «vegetarisch» nötig machte. In Leicester, England, entstand deshalb 1944 ein neuer Verein, die Vegan Society. Auf deren Mitbegründer Donald Watson geht auch die Wortschöpfung «vegan» (aus «vegetarian») zurück.

Bewegung in der Schweiz

Als ein Pionier der Vollwertkost in der Schweiz gilt der berühmte Arzt Maximilian Bircher-Benner (1867–1939), der Erfinder des Birchermüesli. Seine vegetarischen Ernährungsrichtlinien setzte er ab 1897 in der renommierten Privatklinik am Zürichberg um, in der bis 1994 viele prominente Patienten Heilung fanden.
Zur selben Zeit eröffnete Ambrosius Hiltl das älteste noch immer bestehende vegetarische Restaurant Europas – das Hiltl in Zürich. Ursprünglich nannte sich das Restaurant wenig attraktiv «Vegetarierheim und Abstinenz-Café».

1900 enstand in Ascona eine lebensreformerische Künstlerkolonie, die auf dem nach ihr benannten Monte Verita eine individualistische Vegetariergenossenschaft gründete.
Bereits 1908 wurde die International Vegetarian Union (IVU) gegründet, als der erste Welt-Vegetarierkongress in Dresden abgehalten wurde.
Zum ersten Mal verbanden sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Themen Tierethik und Vegetarismus miteinander. Bis anhin propagierten die wenigsten Tierethiker einen strengen Vegetarismus, und umgekehrt verstanden sich die wenigsten Vegetarier als Tierethiker. Magnus Schwantje, der von 1939–1950 in der Schweiz lebte, brachte diesen Gedanken in unseren Raum.

Nachkriegszeit

In der Nachkriegszeit bildete sich vor allem im deutschsprachigen Raum das Phänomen der Lebensreformbewegung. Diese Bewegung bestand aus zahlreichen Einzelbestrebungen, denen es aber grundsätzlich immer darum ging, eine natürliche Lebensweise zu fördern. Um 1950 war es besonders Are Waerland aus Schweden, der den Gedanken einer Lebensreform verbreitete. Aufgrund seiner Lehren entwickelte sich in der Schweiz die Waerland-Bewegung, die einigen bestimmt noch durch das regelmässig erscheinende Heft «regeneration» bekannt ist, das von Edwin Heller ab 1966 publiziert wurde. Auch er ist Zeit seines Lebens ein aktiver Verfechter der vegetarischen Lebensweise.

Tierrechtsbewegung

Mitte der 70er-Jahre entstand die sogenannte Tierrechtsbewegung, als deren Auslöser Peter Singers Buch Animal Liberation gilt. Singer und andere Tierrechtler wie Tom Regan und Helmut F. Kaplan fordern als Endziel eine vegane Ernährung.

Schweizer Reformjugend

1968 gründete Fredy Forster in der Schweiz die Schweizer Reformjugend (srj), aus der sich dann 1993 die Schweizerische Vereinigung für Vegetarismus (SVV) bildete. Im Jahre 2014 wurde die SVV in Swissveg umbenannt. Sie ist heute die grösste Schweizer Organisation, die sich für Vegetarier und Veganer einsetzt.
Als Dachverband der nationalen Vegetarier-Verbände in Europa wurde 1985 die Europäische Vegetarier-Union (EVU) gegründet, der mittlerweile etwa 200 Organisationen angehören.
Das Bewusstsein für die ökologischen Auswirkungen des übermässigen Fleischkonsums ist seit den 80er-Jahren ständig gewachsen. Dies führte zu weiteren Meilensteinen in der vegetarischen Bewegung, wie z.B. 2009 zur Einführung des Vegi-Tags in der belgischen Stadt Gent, der auf der ganzen Welt immer mehr Städte folgten. Mit dem zunehmenden Wohlstand und seinen teilweise negativen Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt wird heute auch der breiten Bevölkerung vermehrt bewusst, wie positiv sich eine vegetarische Lebensweise auswirkt.
Trotzdem gelten Vegetarier in der Geschichte noch immer als Sonderlinge oder Randständige. Bis heute wird ihre Sichtweise belächelt, beleidigt oder bekämpft. Aber den mutigen Menschen, die sich davon nicht beirren liessen, ist es zu verdanken, dass der vegetarische Gedanke heute mehr denn je in der ganzen Welt bekannt ist.

Bernadette Raschle

  1. C. Leitzmann: «Vegetarische Ernährung», 2. Auflage 2010, Seite 37.
  2. Ebenda, Seite 39.
  3. Als Häretiker oder Ketzer gilt, wer an eine Lehre glaubt, die im Widerspruch zur Grosskirche oder einer bestehenden Auffassung steht.
  4. www.vegsource.com/john-davis/vegetarian-equals-vegan.html