Wir feiern das Darwin-Jahr, und das gleich doppelt: Am 12. Februar 1809 wurde der wohl grösste Naturforscher aller Zeiten, Charles Robert Darwin, im englischen Shrewsbury geboren, und 50 Jahre später, im November 1859, erschien sein The Origin of Species, jenes bahnbrechende Werk, das den Menschen der Krone der Schöpfung beraubte oder ihn wenigstens vom Sockel holte. Oder etwa doch nicht?
Der Mensch: ein Tier wie sie?
Menschen sind auch nur Tiere, meinte Darwin. Vielleicht andere Tiere, aber manche Tiere sind genauso anders wie wir, und alle Tiere sind sich, ob nun anders oder nicht, in vielem ähnlich.
Das war ein Affront sondergleichen. Die Vorrangstellung des Menschen gegenüber Tieren beruht seit jeher auf der Idee, es gäbe ein Merkmal, das allein uns Menschen eigen ist: Menschen – nicht aber Tiere – seien das Ebenbild Gottes, sie hätten eine Seele, verfügten über Vernunft, Selbstbewusstsein oder die Fähigkeit, sich mit einer Sprache zu verständigen.
Noch im 17. Jahrhundert betrachtete man Tiere offenbar als Automaten und ihre Schreie unter den Messern der Vivisektoren wurden mit den Geräuschen eines Uhrwerks verglichen.
Dass Tiere Empfindungen haben, dass sie fähig sind, Lust und Leid zu erfahren, wurde mit dieser Auffassung, die man normalerweise dem französischen Philosophen und Naturwissenschaftler René Descartes (1596–1650) zuschreibt, freilich abgestritten.
Die Entdeckung des tierlichen Geistes
Heute wissen wir es besser. Fast alle Tiere sind empfindungsfähige Wesen, sie haben ureigene Wahrnehmungen, Bedürfnisse, Gefühle und Interessen, viele von ihnen besitzen ein ausgeprägtes Sozialverhalten, einigen schreibt man einen hohen Grad an Intelligenz zu, anderen räumt man sogar Selbstbewusstsein ein.
All diese Befunde, die uns die moderne Verhaltensforschung am Laufmeter beschert, gehen Hand in Hand mit der zentralen Einsicht der Evolutionsbiologie: Es gibt keine geistige Fähigkeit, die einzig der Mensch aufweist und die allen anderen Tieren vollständig fehlt. Es scheint, als hätten wir, dank Darwin, das Cartesische Zeitalter endgültig überwunden.
Biologie und Moral
Hat sich für die Tiere damit etwas verändert?
Darwin hat uns keine Tierethik hinterlassen, ein Zusammenhang mit seiner Theorie besteht aber allemal. Denn die Suche nach einem Merkmal, das uns Menschen von allen anderen Tieren unterscheidet, war – und ist bis heute – immer auch eine Suche nach etwas, das uns moralisch wertvoller macht; und sei es nur ein gewisses Quantum an Intelligenz, an Selbstbewusstsein oder Autonomie.
Wenn Darwin aber Recht hat, und wenn es solche Merkmale sind, die den moralischen Wert eines Lebewesens ausmachen, so hat dies unmittelbare Konsequenzen für unseren Umgang mit den Tieren. Jener Schutz, den Menschen geniessen, weil sie diese Merkmale besitzen, sollte entsprechend auch jenen Tieren zukommen, die sie ebenfalls aufweisen.
Die Realität sieht anders aus. Zwar bewundern wir das Einfühlungsvermögen von Hunden, uns fasziniert das Seelenleben unserer Katzen, wir staunen über das Sozialverhalten der Hühner, die Intelligenz von Schweinen oder die Fähigkeit von Primaten, sich selbst im Spiegel zu erkennen.
Und doch hindert uns all das nicht daran, diese Tiere in unseren Dienst zu stellen, sie auf engstem Raum einzupferchen, sie zu mästen und zu schlachten, an ihnen zu experimentieren oder sie in Zoos auszustellen.
Mitglied im ehrenwerten Klub der moralisch Gleichen: doch zu welchem Preis?
«Wie intelligent muss ein Papagei sein, bevor wir ihn als moralisches Lebewesen anerkennen?», fragt der amerikanische Rechtsphilosoph Gary L. Francione und meint das keineswegs rhetorisch. Es wäre in der Tat unklug, die Anforderungen an jene, die in den Klub der moralisch Gleichen aufgenommen werden dürfen, an immer höhere und komplexere geistige Fähigkeiten zu knüpfen.
Weshalb? Weil es immer auch Menschen gibt, die über diese Eigenschaften nicht verfügen. Nicht alle von uns sind in der glücklichen Lage, sich sprachlich zu artikulieren, nicht alle von uns führen ein selbstbestimmtes Leben, sind mit Autonomie, Selbstbewusstsein oder Rationalität ausgestattet. Säuglinge, Schwerbehinderte oder demente Menschen sind es offenbar nicht.
Heisst das nun, dass wir mit diesen Menschen umgehen dürfen wie mit nichtmenschlichen Tieren, dass wir sie im Zirkus vorführen, sie mästen, einsperren und aufessen oder an ihnen experimentieren dürfen?
Empfindungsfähigkeit – was mehr?
Natürlich nicht! Es bedeutet aber, dass wir nach einem Merkmal suchen sollten, das diese Menschen ebenfalls besitzen und das sie moralisch genauso wertvoll macht wie die übrigen von uns.
Dass auch Säuglinge, Schwerbehinderte oder Demente Gottes Ebenbild sind, dürfte seit Darwin ebenso wenig ein Argument sein wie der lapidare Hinweis, dass auch diese Menschen der Spezies homo sapiens angehören.
Das einzige Merkmal, das alle von uns aufweisen, ist die Empfindungsfähigkeit.
Sind wir der Überzeugung, dass Menschen gleichermassen moralisch wertvoll sind, dann muss es dieses Merkmal sein, das allein dafür ausschlaggebend ist, weshalb wir allen Menschen den Schutz fundamentaler Interessen am Leben, an Freiheit und Unversehrtheit zugestehen.
Dann aber gibt es keinen Grund mehr, nichtmenschliche Tiere aus dem Klub der moralisch Gleichen auszuschliessen oder sie nur schon als Mitglieder zweiten Ranges zu behandeln.
Auch wenn manche von ihnen intelligenter, sprachbegabter oder mit mehr Selbstbewusstsein ausgestattet sein sollten als andere, so gilt doch eines mit Sicherheit: Sie alle sind empfindungsfähige Wesen – genauso wie wir. Und also sollten wir ihnen denselben Schutz gewähren, den wir auch uns und unseresgleichen bieten.
Cartesisches Zeitalter, hier und jetzt
Die Realität, wie gesagt, sieht anders aus. Wir bewegen uns, Darwin hin oder her, immer noch im Cartesischen Zeitalter.
Schlimmer noch: Obschon es für uns keinen Zweifel daran gibt, dass auch nichtmenschliche Tiere empfindungsfähige Wesen sind, sehen wir grosszügig über diese Tatsache hinweg und behandeln sie nach wie vor als Ressourcen, die für uns da sind und die wir nach Belieben ausbeuten dürfen.
Vielleicht liegt genau darin das eigentlich Beschämende: Descartes’ Zeitgenossen mochten es tatsächlich nicht besser gewusst haben, als sie in Tieren blosse Automaten sahen. Wir aber müssen es besser wissen. Und doch verbergen wir uns auch weiterhin hinter dem Schleier der Unwissenheit.
Klaus Petrus