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Warum wir Katzen und Hunde lieben und Schweine essen

Wir lieben Tiere. Wir sorgen uns um ihr Wohlbefinden. Und dennoch töten und essen wir sie. Die amerikanische Sozialpsychologin Dr. Melanie Joy hat diesem widersprüchlichen Verhalten erstmals einen Namen gegeben: Karnismus.

Doppelmoral und kognitive Dissonanz

Warum sind wir in unserem Land so empört darüber, dass in anderen Ländern Hunde und Katzen gegessen werden? Warum sehen wir nicht, dass Tiere, die bei uns gegessen werden, genauso gefühlsfähige Lebewesen sind, wie die Haustiere, die häufig als vollwertige Familienmitglieder angesehen werden? In unserer Gesellschaft wird mit zweierlei Mass gemessen. Und das auf eine solch selbstverständliche Weise, die auch kulturell so tief verankert ist, dass diejenigen als sonderbar oder gar extrem eingestuft werden, die sich von dieser Doppelmoral distanzieren. 

Es kommt aber auch vor, dass sich Fleischesser dem Widerspruch bewusst werden und sie daran denken, dass sie da eigentlich ein empfindungsfähiges Wesen für ihren kurzen Gaumenschmaus leiden und sterben lassen. Das ist häufig der Moment, in dem die kognitive Dissonanz zum Tragen kommt: Der Trick ist dabei, dass wir die quälende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit verringern – oder ganz eliminieren. Dissonanzreduktion nennen das Psychologen. Dafür gibt es eine reiche Auswahl an Strategien.1 

Gedankenexperiment 

Stellen Sie sich vor, Sie sind bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Ihre Gastgeberin ist berühmt für ihre Spaghetti mit Bolognese-Sauce. Und sie tischt Ihnen ein Gericht auf, das Ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Stellen Sie sich vor, dass Ihnen das Gericht so gut schmeckt, dass Sie die Gastgeberin nach dem Rezept fragen. Und geschmeichelt sagt diese zu Ihnen: «Nun, das Geheimnis liegt im Fleisch. Man benötigt dazu etwa 500 Gramm besonders zartes Labrador-Hundefleisch.»

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um über Ihre Gedanken und Gefühle nachzudenken. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass das, was Sie eben noch lecker fanden, in Ihnen nun Ekel erweckt. Das, was Sie eben noch als Fleisch betrachteten, sehen Sie nun als ein Stück totes Tier. 

Ohne Bewusstsein gibt es keine freie Entscheidung

Dieses Gedankenexperiment stammt von der amerikanischen Sozialpsychologin Dr. Melanie Joy. Laut Joy gibt es, wenn es um das Thema Tiere essen geht, eine Lücke in unserem Bewusstsein, die uns nicht nur dazu bringt, dass wir nicht mehr die Verbindung zwischen Fleisch und lebendem Tier herstellen, sondern auch unsere authentischen Gedanken und Gefühle beim Fleischkonsum blockiert. Und wenn wir uns der Realität des Fleisches sowie unserer authentischen Gedanken und Gefühle nicht bewusst sind, dann ist uns auch nicht bewusst, dass wir eine Wahl haben. Diese Lücke in unserem Bewusstsein beraubt uns also der Fähigkeit, freie Entscheidungen treffen zu können. Denn ohne Bewusstsein gibt es keine freie Entscheidung. 

Essen Schweizer Katzen und Hunde? 

Die «FAZ» schreibt 2018 in einem Artikel «In den Schweizer Kantonen Bern, Luzern und Jura war KATZENFLEISCH lange Zeit ein traditionelles Weihnachtsgericht unter Bauern: Katze gekocht in Thymian war eines der beliebtesten Gerichte. Bis heute ist es in der Schweiz erlaubt, die eigenen Haustiere zu verspeisen.»2 

La Table Suisse

Tatsächlich ist es gesetzlich nach wie vor erlaubt, Katzen und Hunde zu essen, sofern es sich um die eigenen Tiere handelt. Nur zu kommerziellen Zwecken sind Hunde- und Katzenfleisch verboten. Mit der Aktion «La Table Suisse» hat Swissveg 2016 gemeinsam mit ProVeg Deutschland und Beyond Carnism für weltweites Aufsehen gesorgt: Ein hipper Schweizer Koch erzählt in einem angeblichen Promo-Video, wie er traditionsreiche Menüs seiner Grossmutter in einem Nobelrestaurant anbieten will: Büsirücken. 

Das Restaurant gibt es nicht, und der Büsirücken wird nirgends serviert.

Dennoch ist es uns, gemeinsam mit den anderen Organisationen, gelungen, die Menschen zum Nachdenken anzuregen: Warum sorgt der Konsum der Katze für solch eine Empörung? Warum hinterfragen Omnivoren nicht die ethischen Auswirkungen des Konsums von Hühnern, Schweinen oder Rindern? 


Schlussendlich ist es für Swissveg zweitrangig, ob tatsächlich Hunde- oder Katzenfleisch in der Schweiz gegessen wird. Wir arbeiten mit all unseren Mitteln daran, die Schweizer Bevölkerung dabei zu unterstützen, ihre kognitive Dissonanz im Bereich Ernährung zu überwinden und den Konsum aller tierischen Produkte nachhaltig zu senken.

Wer ist essbar?3 

Menschen stufen in den meisten Fleisch essenden Kulturen nur eine kleine handvoll an Spezies als essbar ein. Bei allen anderen Spezies lernen wir, sie als nicht essbar und deswegen den Konsum ihrer Körper und Körperprodukte als ekelhaft zu empfinden. Auffallend ist also nicht die Anwesenheit von Ekel. Ekel ist vielmehr die Regel als die Ausnahme. Auffallend ist vielmehr die Abwesenheit von Ekelgefühlen. Warum empfinden wir keinen Ekel bei den Spezies, bei denen wir gelernt haben, sie als essbar einzustufen? 
Diese Lücke in unserem Bewusstsein nennt Joy in ihrem Buch «Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen» Karnismus. Es handelt sich dabei, in Anlehnung an die Begriffe Vegetarismus und Veganismus, um ein Überzeugungssystem oder eine Ideologie, die uns daran gewöhnt, (bestimmte) Tiere zu essen. Im Gegensatz zu Veganismus ist Karnismus jedoch eine ganz spezielle Ideologie. Es ist einerseits eine dominierende Ideologie, d. h. eine Ideologie, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Und andererseits ist es auch eine gewaltvolle Ideologie, denn Fleisch kann nicht ohne das Töten von Tieren hergestellt werden. Und gewaltvolle und dominierende Ideologien wie Karnismus benutzen ein Set aus sozialen und psychologischen Abwehrmechanismen, die es uns ermöglichen, an Praktiken teilzunehmen, die wir eigentlich niemals unterstützen würden, ohne dabei vollständig zu realisieren, was wir tun.

Abwehrmechnanismen betäuben unser Mitgefühl

Abwehrmechanismen lassen sich grob in drei Kategorien einteilen. 

  • Leugnung
    Der erste Abwehrmechanismus ist Leugnung, die sich in Unsichtbarkeit äussert. Obwohl wir ständig von Fleisch umgeben sind, sehen wir die Tiere praktisch niemals lebendig. Die Macht dieser Unsichtbarkeit wird einem ganz schnell bewusst, wenn man sich die Zahlen vor Augen führt: Rund 75 Millionen Nutztiere werden in der Schweiz pro Jahr getötet. Weltweit sind es sogar um die 64 Milliarden Tiere jährlich. Wieso bekommen wir diese Tiere fast nie zu Gesicht?
  • Rechtfertigung 
    Der zweite Abwehrmechanismus ist Rechtfertigung durch die sogenannten «drei N der Rechtfertigung»: Tiere essen ist normal, natürlich, notwendig. Dabei merken wir meist nicht, dass es sich um Mythen handelt und wir hier eigentlich nie die Realität objektiv betrachten, sondern durch die «karnistische Brille». Zum Beispiel betrachten wir beim Natürlichkeitsargument nie unsere pflanzenessenden Vorfahren, sondern deren fleischessende Nachfahren. Anders ausgedrückt: Wir gehen nur so weit in der Geschichte zurück, wie wir benötigen, um unsere momentanen Praktiken zu rechtfertigen.
  • Warhnehmungsverzerrung
    Der dritte Abwehrmechanismus ist Wahrnehmungsverzerrung. Zum Beispiel lernen wir, Tiere in einzelne Kategorien zusammenzufassen, sodass wir sehr unterschiedliche Gefühle und Verhaltensweisen gegenüber verschiedenen Spezies praktizieren können (Hunde streicheln, Schweine essen). Oder wir betrachten Nutztiere als Eigentum, als Objekte, anstatt als Lebewesen. In der Industrie gibt man ihnen Nummern anstatt Namen. 

Ohne diese grösstenteils unbewusst wirkenden Abwehrmechanismen wäre es uns überhaupt nicht möglich, Tiere zu essen. Denn die gute Nachricht ist: Wir sorgen uns um das Wohl von Tieren. Es ist uns nicht egal. Und Karnismus ist abhängig von unserer Gleichgültigkeit und unserer Täuschung. Warum sonst bräuchten wir all diese psychologischen Tricks, wenn es nicht wegen unserer Sorge wäre?

Rassismus, Sexismus, Karnismus?

Doch Joy geht in ihrer Theorie noch weiter: Die gleichen Abwehrmechanismen finden sich laut ihr auch in anderen gewaltvollen Ideologien wieder, wie zum Beispiel dem Rassismus oder dem Sexismus. So wurden auch Sklaven als Eigentum, als Objekte betrachtet. Oder man argumentierte, dass es eine natürliche Hierarchie zwischen weissen und farbigen oder zwischen heterosexuellen und homosexuellen Menschen gebe. Auch das Unglück der Frauen blieb lange Zeit unsichtbar, da sie aus dem öffentlichen Leben (Universitäten, Politik, Berufsleben) verbannt wurden. Und gerade deswegen – so Joy – sei das Essen von Tieren eben nicht nur eine Sache der persönlichen Moral. Es ist das unausweichliche Endresultat eines tief verwurzelten Unterdrückungssystems. Tiere essen ist ein Thema von sozialer Gerechtigkeit.

Geistige Fähigkeiten zugestehen oder nicht

Bestätigt wird Melanie Joys Theorie auch von den Forschungen von Brock Bastian von der Universität von Queensland in Australien. Auch er ist davon überzeugt, dass Fleischesser erhebliche geistige Anstrengungen unternehmen, um mit dem Widerspruch zwischen Tierliebe und Fleischkonsum klarzukommen. In einem Experiment konnte er nachweisen, dass je mehr «Geist» Fleischesser einem Tier zutrauten, desto seltener wollen sie es essen – und desto schärfer verurteilten sie dessen Verzehr. Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen den Eigenschaften, die wir einem Tier zubilligen, und unserem Appetit.

«Ungerechtigkeit irgendwo ist eine Gefahr für Gerechtigkeit überall», sagte einst Martin Luther King Jr. Aber das Gegenteil davon stimmt ebenfalls: Gerechtigkeit irgendwo ist eine Bedrohung für Ungerechtigkeit überall. Und Gerechtigkeit, genauso wie Mitgefühl, ist kein abstraktes Konzept. Es ist etwas, das man praktizieren kann. Zum Beispiel in einem Gerichtssaal, manchmal zumindest. Auf den Strassen einer Grossstadt anlässlich einer Demonstration. Und man kann Gerechtigkeit auf dem Teller praktizieren.

Dr. Melanie JoyDr. Melanie Joy
Melanie Joy ist Professorin für Psychologie und Soziologie an der Universität von Massachusetts in Boston. Die promovierte Sozialpsychologin und Harvard-Absolventin engagiert sich seit 20 Jahren in der Tierrechtsbewegung und berät Aktivisten auf der ganzen Welt zu Themen wie effektive Interessenvertretung, gewaltfreie Kommunikation und Strategien für gesellschaftlichen Wandel. 

 

 

  1. Geo.de: Kognitive Dissonanz, aufgerufen am 15. Juni 2020. 
  2. FAZ: Spannende Fakten über Essen, aufgerufen am 15. Juni 2020. 
  3. Vegan-at-Magazin: Über Melanie Joy, Ausgabe Mai 2014, aufgerufen am 15. Juni 2020. 

 

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