Im südwestlichen Teil Indiens leben konsequente Vegetarier: die geheimnisvollen Todas
In der Bergregion Nilgiris, auch die Blauen Berge genannt, lebt ein aus ungefähr 2000 Mitgliedern bestehender rätselhafter Stamm, über dessen Herkunft schon die abenteuerlichsten Vermutungen aufgestellt wurden: Sie könnten römischer Abstammung sein, ein verlorener Stamm Israels oder auch Nachkommen von Soldaten von Alexander dem Grossen …
Die Todas selbst haben eine ganz andere Erklärung: Einst liess der Schöpfer eine Perle in die Blauen Berge fallen, der die Göttin Thakkirsi entstieg, die ihrerseits, mit einem Schlag ihres Stockes, den ersten Toda und gleichzeitig seinen Wasserbüffel erschuf.
Die Todas und ihre Büffel! Nicht nur haben sie der Legende nach gleichzeitig das blaue Licht entdeckt, sondern auch seither eng miteinander gelebt und voneinander profitiert. Selbst heute im Internet-Zeitalter hat diese Symbiose nichts von ihrer Bedeutung verloren, denn nach wie vor dreht sich das Leben der eleganten Menschen in malerischer Kleidung vorwiegend um ihre massigen Paarhufer.
Die bodenständigen Todas teilen ihre Heimat mit den Stämmen der Badagas, Kotas, Kurumbas und Irulas und sind grösser gebaut als ihre Nachbarn. Sie haben aristokratische Züge, einen relativ hellen Teint, klare Gesichtszüge, «römische» Nasen, hellbraune Augen, gute Zähne und schwarzglänzendes Haar.
Sie leben nach einer konsequent friedlichen Philosophie und ernähren sich als einziger Stamm in dieser Gegend streng vegetarisch, kurz: sie sind «anders». Man sagt, dass sie schon seit tausend Jahren einen vegetarischen Lebensstil praktizieren. Diese «Grünen» der allerersten Stunde betreiben keine Landwirtschaft; praktizieren schonende Viehhaltung, töten nicht und lehnen sogar die Verwertung der Überreste toter Tiere ab.
Da Fleisch absolut tabu ist, ernährt man sich, und zwar bei offensichtlich exzellenter Gesundheit, hauptsächlich von Molkereiprodukten. Eine Mischung aus Milch, Reis, Getreide und Zucker bildet eines der Grundnahrungsmittel, die auch heute noch bei festlichen Anlässen serviert werden. Aber man isst auch Gemüse und Gewürze, Wurzeln, Kräuter, Obst und Honig. Weltberühmt geworden sind die Todas durch ihre Verehrung für Wasserbüffel, die sich zu einer komplexen Glaubensrichtung entwickelt hat mit Priestern, Tempeln und komplizierten Ritualen. Die Tiere sind gleichzeitig Gradmesser für Wohlstand und bestimmen auch das spirituelle Leben, wodurch eine verwirrende Vielfalt von Traditionen entstanden ist, gespickt mit komplizierten Ritualen.
Es wird angenommen, dass eine jahrhundertelange Umsetzung von Ahimsa den Charakter der Todas mittlerweile so durchdrungen hat, dass deren Aggressions- und Konfliktpotential reduziert wurde. In dieser Gemeinschaft spricht man die Sprache des Friedens! Was in anderen Teilen der Welt zu bewaffneten Auseinandersetzungen führen würde, kann bei den Todas durch allgemein akzeptierte Formeln ethischer Übereinstimmung in aller Ruhe gelöst werden.
Der englische Anthropologe W. E. Marshall veröffentlichte im Jahre 1873, als die Toda-Bevölkerung sogar nur 700 Mitglieder zählte, einen verächtlichen Kommentar: «Die Todas beschäftigen sich weder mit Sport noch mit Spielen, betreiben keine gewalttätigen Aktivitäten wie Ringen, Fechten oder Boxen, selbst nicht beim Regeln von persönlichen Konflikten, kurz: nichts deutet auf unstete Charaktere oder einen Überfluss an Energie hin. Sie tragen weder Verteidigungs- noch Angriffswaffe, jagen nicht, weder zum Nahrungsgewinn noch dafür, ihre Jagdlust zu stillen. Sie bearbeiten nicht den Boden, sondern beschränken sich auf das, was der Büffel ihnen schenkt [...].»
Für träge und untüchtig hielt er diese so seltsam ruhigen Vertreter und fragte irritiert: «Wie nur erklärte man sich deren beklagenswerte Ablehnung von üppigen Fleischangeboten? … Warum wirft man die Felle und Hörner, deren Verkauf zu stattlichen Einkünften führen könnte, einfach weg? … Wenn sie schon nicht arbeiten wollen, warum lehnen sie dann auch aufregende und ruhmvolle Kriege, Plünderungen und Orden für die Helden ab? … Warum essen sie nichts als Milch und Getreide, wenn die Wälder vor Wild wimmeln und ganze Herden nur auf das Abschlachten warten [...].»
Die Kritik von damals lässt uns heute zwar von paradiesischen Zuständen träumen, aber leider ist nichts auf dieser Welt vollkommen. Auch die Todas nicht: Wenn jemand aus der Gemeinschaft stirbt, wird ihm ein Büffel auf die Reise ins nächste Leben mitgegeben. Zwar werden diese Tieropfer immer seltener praktiziert, aber sie sind nach wie vor Bestandteil der Tradition von Menschen, die sonst keinem Tier ein Haar krümmen würden.
Herma Caelen